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Wirtschaftskultur und Transformation

Joachim Zweynert
- 01 Dec 2006 - 
- Vol. 86, Iss: 12, pp 801-808
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TLDR
The neoklassische Wirtschaftstheorie hatte die kulturelle Einbettung des Wirtshaftens nicht berichtigt as discussed by the authors.
Abstract
Die neoklassische Wirtschaftstheorie hatte die kulturelle Einbettung des Wirtschaftens nicht berucksichtigt. Die neuere Wirtschaftsforschung geht aber davon aus, dass die Kultur eine Rolle spielt. Wie wirken sich kulturelle Traditionen auf die wirtschaftliche Entwicklung aus? Welchen Einfluss hat die Kultur auf den Transformationsprozess?

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Zweynert, Joachim
Article — Published Version
Wirtschaftskultur und Transformation
Wirtschaftsdienst
Suggested Citation: Zweynert, Joachim (2006) : Wirtschaftskultur und Transformation,
Wirtschaftsdienst, ISSN 0043-6275, Springer, Heidelberg, Vol. 86, Iss. 12, pp. 801-808,
https://doi.org/10.1007/s10273-006-0597-6
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http://hdl.handle.net/10419/42607
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D
ie Frage, inwieweit es nötig sei, kulturelle Faktoren
bei der Analyse wirtschaftlicher Prozesse einzu-
beziehen, ist alles andere als neu. Sie wurde schon vor
rund 200 Jahren von dem deutsch-russischen Klassi-
ker Heinrich von Storch (1766-1835) und seinem Zeit-
genossen Karl Heinrich Rau (1792-1870) kontrovers
diskutiert. In seinem Hauptwerk Cours d’économie
politique (1815) hatte Storch Adam Smith des Materi-
alismus bezichtigt
1
und einen Versuch unternommen,
die klassische Wirtschaftslehre durch eine „ökono-
mische Theorie der Zivilisation“ zu ergänzen. Die-
se Idee war durch das Problem der wirtschaftlichen
Rückständigkeit Russlands gegenüber Westeuropa
angeregt. Storch wollte zeigen, dass in der langen Frist
der Wohlstand der Nationen nicht von der Ausstattung
mit materiellem Kapital, sondern auch von der mit „in-
neren Gütern“, wie unter anderem „Schöngefühl, Sitt-
lichkeit, Glauben“ usw., abhinge.
Karl Heinrich Rau, der den Cours ins Deutsche
übertragen hatte,
2
wies diesen Entwurf zurück. Er ar-
gumentierte, eine Einbeziehung immaterieller Faktoren
verwässere den Erkenntnisgegenstand der Politischen
Ökonomie und berge so die Gefahr, dass sie in den
allgemeinen Staatswissenschaften (wir würden sagen:
den Sozialwissenschaften) aufgehen werde.
3
In der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20.
Jahrhunderts bemühten sich die deutschen Histo-
rischen Schulen und die (älteren) amerikanischen Insti-
tutionalisten darum, den Wechselwirkungen zwischen
wirtschaftlichem und kulturellem Wandel gerecht zu
werden – und handelten sich dafür immer wieder Kritik
ein. Der Umstand, dass es ihnen nicht gelang, ein kon-
sistentes Lehrgebäude zu entwickeln, war einer der
Gründe für den Triumphzug der neoklassischen Lehre
nach dem Zweiten Weltkrieg. Das für die Neoklassik
konstitutive Konstrukt des homo oeconomicus bedeu-
tet, dass man von der sozialen und kulturellen Einbet-
tung des Wirtschaftens abstrahiert. Dadurch werden
auch die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und
Gesellschaft ausgeblendet, die sich nicht auf die Nut-
zenkalküle vollständig oder eingeschränkt rationaler
Akteure zurückführen lassen.
Nachdem die Neoklassik für mehrere Jahrzehnte
die Volkswirtschaftslehre dominiert hat, hat sich die
Kritik an ihr in den letzten Jahren entscheidend ver-
stärkt – und zwar nicht nur von Vertretern heterodoxer
Strömungen, sondern auch von Ökonomen, die sich
eigentlich dem Mainstream verpfl ichtet fühlen. Die
entscheidende Ursache dafür ist darin zu sehen, dass
die strikte Grenzziehung zwischen der Wirtschafts-
wissenschaft und den anderen Sozialwissenschaften
der ökonomischen Realität im Zeitalter der so genann-
ten „Globalisierung“
4
nicht gerecht wird. Aus heutiger
Joachim Zweynert*
Wirtschaftskultur und Transformation
Die neoklassische Wirtschaftstheorie hatte die kulturelle Einbettung des Wirtschaftens
nicht berücksichtigt. Die neuere Wirtschaftsforschung geht aber davon aus, dass die
Kultur eine Rolle spielt. Wie wirken sich kulturelle Traditionen auf die wirtschaftliche
Entwicklung aus? Welchen Einfl uss hat die Kultur auf den Transformationsprozess?
PD Dr. Joachim Zweynert, 36, ist wissen-
schaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Eu-
ropäische Integration im Hamburgischen
WeltWirtschaftsArchiv (HWWA).
* Dieser Aufsatz resultiert aus dem gemeinschaftlich von der Universi-
tät Hamburg und dem Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv durch-
geführten Forschungsprojekt „Die historisch-kulturelle Pfadabhängig-
keit der Transformationsprozesse in ehemals sozialistischen Ländern
des Ostseeraums und ihre Bedeutung für die Erweiterung der EU“.
Das Projekt wird von der VolkswagenStiftung gefördert.
1
Dieser Vorwurf erscheint aus heutiger Sicht kaum gerechtfertigt.
So hat etwa Kenneth E. Boulding überzeugend nachgewiesen, welch
bedeutende Rolle die „cultural matrix“ bei Smith spielt. Vgl. K. E.
Boulding: Toward the Development of a Cultural Economics, in: So-
cial Science Quarterly, Vol. 53, Nr. 2, 1972, S. 267-284.
2
H. St o rc h : Handbuch der National-Wirthschaftslehre, aus dem
Französischen, mit Zusätzen von Karl Heinrich Rau, 3 Bde., Hamburg
1819-20.
3
Vgl. K. H. R a u : Grundsaetze der Volkswirthschaftslehre, 6. Aufl .,
Bd. 1, Leipzig, Heidelberg 1855, S. 58.
4
Die populäre Verwendung dieses Begriffs ist insoweit problema-
tisch, als Wirtschaftshistoriker immer wieder darauf hinweisen, dass
die internationale Verfl echtung von Kapital und Märkten kein neues
Phänomen darstellt. Es sei sogar fraglich, so argumentieren einige
von ihnen, ob man heute bereits das Ausmaß an Globalisierung über-
schritten habe, das am Vorabend des Ersten Weltkrieges erreicht wor-
den war. Vgl. etwa P. Hirst, G. Thompson: Globalization in Questi-
on. The International Economy and the Possibilities of Governance, 2.
Aufl ., Cambridge 2005.
DOI: 10.1007/s10273-006-0597-6

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Sicht ist es kein Zufall, dass die Blütezeit der neoklas-
sischen Lehre mit dem politischen Zeitalter des Kalten
Krieges zusammenfi el. Denn die umwälzenden Verän-
derungen seit Ende der 1980er Jahre machen deut-
lich, in welchem Maße die Aufspaltung der Welt in zwei
feindliche Blöcke die weltweite Entwicklungsdynamik
– und dies nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet – ge-
bremst hat. So lange in der Wirklichkeit keine tiefgrei-
fenden Wandlungsprozesse zu beobachten sind, ist es
relativ unproblematisch, das Verhältnis zwischen der
Wirtschaft und den anderen Teilbereichen der Gesell-
schaft auszublenden bzw. als gegeben anzunehmen.
Wirtschaftliche Umbruch- oder Transformationsperio-
den sind hingegen dadurch gekennzeichnet, dass sich
die Relationen zwischen den gesellschaftlichen Teilbe-
reichen verschieben. Während die neoklassische The-
orie hinsichtlich dieses Problems einen blinden Fleck
aufweist,
5
stand das Wechselspiel zwischen Wirtschaft
und Gesellschaft im Zentrum der älteren institutiona-
listischen Ansätze, und dies erklärt die neuerliche Re-
levanz ihrer Fragestellungen.
So refl ektiert der Historismus in der deutschen
Wirtschaftswissenschaft klar und deutlich ein Trans-
formationsproblem, nämlich den Übergang von einer
feudalen zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung.
Das eigentliche Problem lautete für den Begründer
der jüngeren Historischen Schule Gustav Schmoller,
wie soziale Kohäsion in einer Gesellschaft wiederher-
gestellt werden könne, deren patriarchalische Bezie-
hungen gelöst waren, ohne dass bisher andere (z.B.
geldwirtschaftliche) Bindungen an ihre Stelle getreten
waren.
6
Im Zuge der rapiden wirtschaftlichen Ent-
wicklung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts ließ sich beobachten, dass benachbarte
Gebiete, die über ähnliche ökonomische Ausgangs-
bedingungen verfügten, sich unterschiedlich rasch
entwickelten. Diese Beobachtung veranlasste Max
Weber, Überlegungen über christliche Konfessionen
und wirtschaftliche Entwicklung anzustellen, die ihren
Niederschlag in seiner berühmten Studie „Die protes-
tantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ fan-
den.
7
5
Dies ist übrigens für eine Vielzahl wirtschaftswissenschaftlicher
Fragestellungen völlig unproblematisch. Insofern halte ich ausgespro-
chen wenig von der Fundamentalkritik am neoklassischen Paradigma,
wie es in bestimmten Kreisen der ökonomischen Zunft schon seit eini-
gen Jahren in Mode ist.
6
Vgl. zu Schmollers Ideen im Kontext der zeitgenössischen Globali-
sierungswelle H. R ieter, J. Zweynert: Gustav Schmoller and Glo-
balisation, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 126, Nr. 2, S. 225-250.
7
M. Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalis-
mus, Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05
mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen
aus der zweiten Fassung von 1920, München 2006.
Methodische Grundlagen
Solche Fragestellungen sind wieder aktuell. Im Zeit-
alter der „Globalisierung“ haben viele Menschen den
Eindruck – ob zu Recht oder zu Unrecht, steht hier
nicht zur Disposition –, die zunehmende „Ökonomi-
sierung“ verschiedener Lebensbereiche bedrohe die
gewachsenen Traditionen und untergrabe den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt. Und sowohl in bestimm-
ten Regionen Asiens als auch im östlichen Europa
kann man heute erneut beobachten, wie benachbarte
Gebiete mit ähnlichen Ausgangsbedingungen bei der
Reform ihrer politischen wie wirtschaftlichen Systeme
unterschiedlich rasch vorankommen oder sogar ent-
gegengesetzte Entwicklungspfade einschlagen. Bei
beiden Beobachtungen handelt es sich um Probleme,
die (1) die Interaktion von Wirtschaft und Gesellschaft
betreffen und (2) tiefgreifende Wandlungsprozesse re-
ektieren.
Ein drittes für die wirtschaftskulturelle Transformati-
onsforschung
8
entscheidendes Problem besteht in der
Ungleichzeitigkeit der sozialen Entwicklung. Befassen
wir uns mit dem Zusammenhang zwischen Wirtschaft
und Kultur, dann geht es immer auch um das Verhält-
nis zwischen ökonomischer Realität auf der einen und
um die Ideen, Werte und Vorstellungen, die die Men-
schen im Kopf haben, auf der anderen Seite. Ohne ei-
ne Aussage über mögliche Kausalitäten zwischen ma-
terieller und ideeller Entwicklung machen zu müssen,
kann man davon ausgehen, dass sich ohne „störende“
exogene Einfl üsse in Gesellschaften langfristig eine
ungefähre Übereinstimmung zwischen sozialer Reali-
tät und den diese Realität betreffenden Denkmustern
herausbilden wird. Diese Muster sollen hier mit Arthur
T. Denzau und Douglass C. North als „shared mental
models“ bezeichnet werden.
9
Nachholende Entwick-
lung stellt in der Wirtschaftsgeschichte weniger einen
Sonder-, als vielmehr den Regelfall dar. Sie bedeutet,
dass Länder die Wirtschaftweise fortgeschrittener
Länder imitieren, und dabei – wenn sie den Abstand
verringern wollen – ein hohes Tempo vorlegen müs-
sen. Unter der plausiblen Annahme, dass sich Denk-
muster als Bestandteil der informellen Institutionen
8
Dieser Begriff wurde von Hans-Hermann Höhmann im Kontext der
Transformationsprozesse in Ostmittel- und Osteuropa in den wissen-
schaftlichen Diskurs eingefügt. Vgl. H.-H. H öhmann: Vorwort, in:
ders. (Hrsg.): Eine unterschätzte Dimension? Zur Rolle wirtschafts-
kultureller Faktoren in der osteuropäischen Transformation, Bremen
1999. Meines Erachtens ist die Interaktion von Wirtschaft und Kultur
überall dort von entscheidender Bedeutung, wo es um einen grund-
legenden Wandel des Verhältnisses von Wirtschaft und Gesellschaft
geht. Das gilt nicht ausschließlich für die ehemaligen Ostblockländer,
sondern auch für viele Schwellen- und Entwicklungsländer weltweit.
9
A. T. Denzau, D. C. North: Shared Mental Models: Ideologies and
Institutions, in: Kyklos, 47. Jg., Fasc. 1, S. 3-31.

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langsamer wandeln als formelle Institutionen,
10
kommt
es bei nachholender Entwicklung potentiell zu einer
Diskrepanz zwischen beiden. Kann diese Kluft nicht in
absehbarer Zeit geschlossen werden, so drohen nicht
nur Wohlfahrtsverluste, sondern auch politische Insta-
bilität. Da indes die Wirtschaftswirklichkeit eine Rück-
wirkung auf die vorherrschenden shared mental mo-
dels hat, kann man davon ausgehen, dass mittel- bis
langfristig eine neue Gleichgewichtstendenz besteht.
Die Idee des Institutionentransfers
Zwischen den länder- oder kulturraumspezifi schen
Prägungen einerseits und der Notwendigkeit, im inter-
nationalen wirtschaftlichen (aber auch politischen und
militärischen) Wettstreit bestehen zu können anderer-
seits, besteht regelmäßig ein Spannungsverhältnis,
das in der Literatur zur Transformation und zur Globa-
lisierung viel zu selten ausreichend thematisiert wird.
Nach wie vor bezieht die Mehrheit der Ökonomen
kulturelle Faktoren nicht in die Analyse ein und geht
grundsätzlich davon aus, dass ökonomisch „vernünf-
tige“ Reformkonzepte grundsätzlich an allen Orten und
zu allen Zeiten greifen. Die Autoren, die versuchen,
der kulturellen Dimension des Wirtschaftens gerecht
zu werden, fallen nicht selten ins andere Extrem. In-
nerhalb dieser Literatur lassen sich zwei Strömungen
unterscheiden. Eine ganze Reihe von Autoren, die
zumeist aus der Neuen Wachstumstheorie stammen,
haben in den letzten Jahren ökonometrische Untersu-
chungen zum Einfl uss kultureller Faktoren – vor allem
von Religion und Vertrauen – auf Wachstum und Ent-
wicklung vorgelegt.
11
Einen ganz anderen Ansatz ver-
treten die Anhänger der Neuen Institutionenökonomie,
die das Thema „Kultur“ in letzter Zeit wiederentdeckt
haben.
12
Sie berufen sich auf die Idee der Pfadabhän-
gigkeit,
13
wenn sie argumentieren, dass „history mat-
ters“, weil bestimmte kulturelle Traditionen und Wert-
vorstellungen die Bahnen vorgeben, auf denen sich
10
Vgl. grundlegend dazu G. Roland: Understanding Institutional
Change: Fast-Moving and Slow-Moving Institutions, in: Studies in
Comparative International Development, Bd. 38 (2004), Nr. 4, S. 109-
131.
11
Vgl. stellvertretend für diese Literatur L. G uiso, P. Sapienza, L.
Zingales: Does Culture Affect Economic Outcomes?, in: Journal of
Economic Perspectives, Bd. 20, 2006, Nr. 2, S. 23-48; vgl. S. K nack,
P. Keefer: Does Social Capital Have an Economic Payoff? A Cross-
Country Investigation, in: S. K nack (Hrsg.): Democracy, Governance,
and Growth, Ann Arbor, Michigan, 2003, S. 252-288.
12
Zu nennen sind hier vor allem die neueren Arbeiten von D. C. Nor-
th, die er in seinem jüngsten Buch „Understanding the Process of
Economic Change“ (Princeton 2005) zusammengefasst hat, und im
deutschen Sprachraum die von Helmut Leipold, der seit längerem auf
diesem Gebiet forscht und gerade eine Monographie zur „Kulturver-
gleichenden Institutionenökonomik“ (Stuttgart 2006) vorgelegt hat.
13
Vgl. ausführlich dazu R. Ackermann: Pfadabhängigkeit, Instituti-
onen und Regelreform, Tübingen 2001.
der institutionelle Wandel in bestimmten Ländern oder
Kulturräumen bewegt.
Bei allen Unterschieden zwischen beiden Rich-
tungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden
kann, haben sie zwei Dinge gemein: Erstens bleibt
die politische Ebene ausgeklammert, wodurch not-
wendig auch das Problem der Ungleichzeitigkeit un-
ter den Tisch fällt. Zweitens wird der Zusammenhang
zwischen Kultur und Wirtschaft als einseitige Kausali-
tät dargestellt. Kultur ist hier eine exogene und unver-
änderliche Größe, die als Erklärung für alles herhalten
muss, was sich mit herkömmlichen Methoden nicht
erklären lässt.
14
Das birgt die Gefahr eines kulturalis-
tischen Fatalismus, demzufolge die Prosperität von
Nationen weniger von der Wirtschaftspolitik als viel-
mehr von kurz- und mittelfristig kaum veränderbaren
kulturellen Prägungen abhängt. Sicherlich ist das
Theorem der Pfadabhängigkeit bestens geeignet, um
die Persistenz wirtschaftlicher und sozialer Arrange-
ments zu erklären, wie sie sich in vielen Ländern der
Welt beobachten lässt. Die Wirtschaftsgeschichte
kennt aber auch Beispiele für erfolgreiche Reform-
prozesse in Ländern, in denen dies aus kulturalisti-
scher Sicht nicht zu erwarten war,
15
und dies steht
eindeutig im Widerspruch zur Idee der Pfadabhängig-
keit. Ein weiteres Argument spricht gegen diese Idee:
Reform- und Modernisierungsprozesse in „rückstän-
digen“ Volkswirtschaften werden häufi g durch äuße-
re Schocks, wie z.B. weltwirtschaftliche Krisen oder
Kriege angestoßen. Es sind also regelmäßig exogen
bedingte Erschütterungen, die es erforderlich (und
möglich) machen, von einem bestimmten Entwick-
lungspfad abzuweichen und die Weichen neu zu stel-
len.
Die Maßnahmen, die in solchen Reformphasen ein-
geleitet werden, orientieren sich in sich nachholend
entwickelnden Ländern zumeist an ausländischen
Vorbildern. Das aus Sicht der wirtschaftskulturellen
Transformationsforschung entscheidende Problem
lautet dann, wie die importierten formellen Instituti-
onen mit den einheimischen shared mental models
interagieren. Genau diese Fragestellung steht im Mit-
telpunkt der ursprünglich von Sozialwissenschaftlern
entwickelten – und wohl nicht zufällig von russischen
Ökonomen besonders intensiv rezipierten – Theorie
des Institutionentransfers oder der Transplantation
14
Vgl. zur Kritik daran N. G oldschmidt, B. Remmele: Anthro-
pology as the basic science of economic theory: towards a cultural
theory of economics, in: Journal of Economic Methodology, 12. Jg.,
Nr. 3, S. 455-469, hier S. 456.
15
Japan nach dem Zweiten Weltkrieg ist wohl das am häufi gsten be-
mühte Beispiel dafür.

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von Institutionen.
16
Innerhalb ihrer lassen sich zwei
Strömungen grob voneinander unterscheiden, näm-
lich ein „actors pulling in“ und ein „goodness of the
t“-Ansatz.
17
Der erste betont die Rolle der politischen
Akteure, von deren Geschick es abhängt, ob neue Ins-
titutionen dauerhaft verankert werden können. Die An-
hänger des „goodness of the fi t“-Ansatzes hingegen
neigen zu der relativistischen Ansicht, dass nur solche
Institutionen überhaupt transplantiert werden können,
die grundsätzlich kompatibel mit der Kultur des Emp-
fängerlandes sind.
Das Konzept des Institutionentransfers eröffnet eine
Art „Dritten Weg“ zwischen dem naiven Glauben an die
prinzipielle Übertragbarkeit politischer und wirtschaft-
licher Institutionen in andere Länder einerseits und
einem kulturalistischen Fatalismus, der im Extremfall
dazu verleitet, bestimmten Ländern oder ganzen Kul-
turräumen die Reformfähigkeit grundsätzlich abzu-
sprechen. Es steht in keiner Weise im Gegensatz zu
ökonomischen Erklärungen institutionellen Wandels,
sondern ergänzt sie um eine wichtige Dimension.
Die Transformationsprozesse in Ostmittel- und
Osteuropa aus wirtschaftskultureller Sicht
Im Folgenden soll am Beispiel Ostmittel- und Ost-
europas veranschaulicht werden, wie ökonomische,
politische und kulturelle Faktoren in den zwei Trans-
formationen zusammenwirkten, die diese Länder im
Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts durchliefen.
18
Aus Sicht der wirtschaftskulturellen Transformati-
onsforschung sind drei Faktoren für institutionellen
Wandel in sich nachholend entwickelnden Volkswirt-
schaften ausschlaggebend, nämlich erstens die kul-
turellen Vermächtnisse, die im Sinne des Theorems
der Pfadabhängigkeit die Bahnen bestimmen, auf
denen sich Wandel unter Ausblendung exogener Ein-
üsse bewegt, zweitens der äußere Druck, der durch
16
Vgl. etwa B. B adie: The Imported State. The Westernization of
the Political Order, Stanford, California 2000; vgl. V. M. P olterovi-
c h : Transplantsiia ekonomicheskikh institutov, in: Ekonomicheskaia
nauka sovremennoi Rossii, Nr. 3, 2001, S. 24-50; vgl. M. d e Jong
et al. (Hrsg.): The Theory and Practice of Institutional Transplantation.
Experiences with the Transfer of Policy Institutions, Dorderecht et al.
2002; vgl. A. O leinik: The More Things Change, the More They Stay
the Same: Institutional Transfers seen through the Lens of Reforms in
Russia, in: Journal of Economic Issues, Vol. XL, No. 4, 2006, S. 919-
940.
17
Vgl. M. de Jong, V. Mamadouh: Two Contrasting Perspectives
on Institutional Transplantation, in: d ies. (Hrsg.): The Theory and
Practice of Institutional Transplantation, a.a.O., S. 19-32.
18
Die folgende Darstellung lehnt sich an die ausführlichere Darstel-
lung in einem Beitrag an, den Nils Goldschmidt (Walter Eucken Insti-
tut, Freiburg im Breisgau) und ich gemeinsam verfasst haben. Vgl. J.
Zweynert, N. Goldschmidt: The Two Transitions in Central and
Eastern Europe as Processes of Institutional Transplantation, in: Jour-
nal of Economic Issues, Vol. XL; No. 4, S. 895-916.
den Wettstreit zwischen den Volkswirtschaften (oder
auch zunehmend zwischen den Wirtschaftsblöcken)
ausgelöst wird und drittens und entscheidend die
Interaktion zwischen importierten formellen und
heimischen informellen Regelwerken in den Pha-
sen, in denen es zum massiven Institutionentransfer
kommt.
Mit Alfred Müller-Armack
19
ist davon auszugehen,
dass religiöse Vermächtnisse eine besonders tiefe
Schicht kultureller Prägungen darstellen und auch in
weitgehend säkularisierten Gesellschaften von bedeu-
tendem Einfl uss auf die vorherrschenden Werte und
Weltbilder sind. Betrachten wir den ehemaligen „Ost-
block“ im Hinblick auf religiöse Prägungen, so fällt die
kulturelle Grenze ins Auge, die zwischen den orthodox
geprägten Ländern auf der einen und den protestan-
tisch und katholisch geprägten Ländern auf der ande-
ren Seite verläuft. Diese Grenze ist nicht nur beinahe
identisch mit der heutigen Ostgrenze der EU,
20
sie mar-
kiert auch die Trennlinie zwischen einer Gruppe weit-
gehend erfolgreicher und einer Gruppe zumindest bis-
her weniger erfolgreicher Transformationsländer.
21
Das
im Hinblick auf die wirtschaftliche, aber auch die poli-
tische Entwicklung der orthodoxen Länder entschei-
dende Charakteristikum der orthodoxen Weltsicht ist
in ihrem ausgeprägten Holismus zu sehen.
22
Die Fra-
ge, ob dieser Holismus nun vor allem dem Umstand
zuzuschreiben ist, dass dem orthodoxen Kulturraum
das Erbe der griechischen Antike entging oder dass
es nie zu einer wirklichen Trennung zwischen Staat
und Kirche gekommen ist, muss hier ausgeklammert
werden.
23
Festzuhalten ist nur, dass die Vorstellung
einer institutionell differenzierten Welt, in der sich die
Sphären der Religion, des Rechts, der Wirtschaft und
der Politik deutlich voneinander abgrenzen lassen, im
19
Vgl. A. M üller-Armack: Genealogie der Wirtschaftsstile. Die
geistesgeschichtlichen Ursprünge der Staats- und Wirtschaftsformen
bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1941, S. 104.
20
Dieser Grenzverlauf ist nur hinsichtlich der Ukraine „falsch“: Denn
die Westukraine, von der die „Revolution in Orange“ ihren Ausgang
nahm, ist griechisch-katholisch geprägt und gehört insofern zum „la-
teinischen“ Kulturraum.
21
Vgl. dazu S. P anther: Cultural Factors in the Transition Process:
Latin Center, Orthodox Periphery?, in: J. B ackhaus (Hrsg.): Issues
in Transformation Theory, Marburg 1997, S. 95-122.
22
Vgl. auch J. Z weynert: Die „ganzheitliche Gesellschaft“ und die
Transformation Russlands, in: H.-H. H öhmann (Hrsg.): Wirtschaft
und Kultur im Transformationsprozeß. Wirkungen, Interdependenzen,
Konfl ikte, Bremen 2002, S. 10-35. Die im deutschen Sprachraum nach
wie vor beste und ausführlichste Darstellung der russisch-orthodoxen
Ethik bietet E. Benz: Geist und Leben der Ostkirche, Hamburg 1957.
23
Vgl. dazu etwa A. M üller-Armack: Zur Religionssoziologie des
europäischen Ostens, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 61, 1945,
S. 163-192; Andreas E. B uss: The Russian-Orthodox Tradition and
Modernity, Leiden 2003.

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From Transformative Leadership to Transformative Learning

TL;DR: In this article, the authors present social transformation processes as the starting point of tensions between shared mental values in organizations, and suggest the need to create collective processes to search, select, and reshape these values to ensure an organization and its actors remain capable of acting.