scispace - formally typeset
Open AccessJournal ArticleDOI

Beiträge zur Physiologie des Raumsinns

E. v. Cyon
- Vol. 89, Iss: 3, pp 427-453
TLDR
Die Bedeutung der Beobachtungen an den Tanzmi~usen ffir die Physio]ogle des Raumsinns ist unterschiedlich.
About
The article was published on 1902-03-01 and is currently open access. It has received 4 citations till now.

read more

Content maybe subject to copyright    Report

427
BeitrgLge zur Physiologie des Raumsinns.
I. Theil.
Neue Beobachtungen an den japanischen Tanzm~iusen.
Von
]E. v. Cyon.
Inhalt.
Sei~e
1. Einleitung ............................ 427
2. Beobachtungen und Versuche an Tanzm~usen ............ 429
3. Zusammenhang der physiologischen Beobachtungen mit den anatomischen
Befunden ............................ 433
4. Analogien und Gegensi~tze zwischen den Bewegungen der Tanzm~use
und denen der Neunaugen .................... 443
5. Die Bedeutung der Beobachtungen an den Tanzmi~usen ffir die Physio-
]ogle des Raumsinns ....................... 445
Anhang .............................. 450
1. Einleitung.
In der Sitzung der ,,Section de Physiologie" des XIII. inter-
nationalen medicinischen Congresses vom 7: August 1900, habe ich die
Bewegungen yon sieben japanischen Tanzmi~usen demonstrirt, die in
den beiden vorangegangenen Monaten Gegenstand meiner Beobach-
tungen waren (1).
Diese Tanzmi~use zeigten, nach mehreren Richtungen hin, niche
unwesentliche Abweichungen yon dem Verhalten, das Rawitz im
Jahre 1899 zuerst beobachtet und beschrieben hat (2), und das spi~ter
yon mir an einigen Miiusen genauer experimental geprtift wurde.
Die wichtigste dieser Abweichungen bestand darin, class einige diesel
Tanzmause es vermochten, nicht ungeschickt in v e r ti caler Richtung
an der Gitterwand ihres Kiifigs zu kletternl). Ich machte in meiner
1) Der Bericht fiber meine Mittheilung lautet: ,,Parmi les souris pr~sentdes,
plusieurs peuvent grimper, mais difficilement, sur le grillage de la cage. M. de
Cyon attribue cette particularitd ~ ce qu'elles poss~dent probablement encore
E. Pflfger, Archly ffir Physlologie. Bd. 89. 29

428 E.v. Cyon:
kurzen Mittheilung die Collegen auf die principielle Bedeutung dieses
u aufinerksam, in der Voraussetzung~ dass dieselbe wahr-
scheinlich auf einem abweichenden anatomischen Zustand ihrer
verticalen Bogengange beruhen miisse. Letztere seien vielleicht
weniger verkrt~ppelt als bei den Mi~usen, welche sowohl Rawitz
als ich zuerst beobachtet haben.
In Anbetracht des theoretischen Interesses, das die Besti~tigung
meiner ausgesprochenen Vermuthung bieten kSnnte, hat es Rawi t z
gtitigst iibernommen, das GehSrorgan meiner Tanzm~mse anatomisch
zu untersuchen.
Die Resultate seiner Untersuchung sind soeben verSffentlicht
worden (4), und werde ich im Abschnitt 3 auf den gusammenhang,
der yon Rawitz constatirten und beschriebenen Verbildungen der
Bogeng~inge mit den yon mir an diesen Thieren gemachten Be-
obachtungen, n~her zuri~ckkommen.
Hier soll nur constatirt werden, class bei dem e inert Paare der
Tanzmi~use~ welche ziemlich geschickt~und yon selbst in verticaler
Richtung zu klettern vermochten, der kleine verticale
Bogengang (der hintere) viel besser erhalten war, als bei
den friiheren yon Rawitz untersuchten Mi~usen, und
auch/alS bei derjenigen Gruppe meiner letztefi Tanz-
mi~use~ die diese Fi~higkeit nicht besassen.
,,In der zweiten Untergruppe, deren Bogengangapparat in
Taf. I Fig. 2 abgebildet ist, zeigen oberer (Tar. I Fig. 2 C. s.)
und hinterer (Taf. I Fig. 2 C. p.) ziemlich normale Verhi~lt-
nisse", schreibt Rawitz (S. 173). In der That, der blosse Anblick
der Fig. 2 zeigt schon, dass der hintere (Verticale) Bogengang bei
den betreffenden Tanzmiiusen viel weniger verkrilppelt war, im
u mit den entsprechenden Bogengi~ngen tier anderen Thiere.
Die verticalen CanMe dieser Gruppe waren sicherlich auch functions-
une second paire de canaux (les verticaux inf~rieurs) assez bien d~velopp~s (1).
:In meinem Aufsatz ,Le sens de l'Espace" (3), der zur selben Zeit im Drucke
war, habe ich in einer Anmerkung (S. 71) reich folgendermaassen ausgedrfickt:
,,Toutes les souris dansantes qu'on trouve dans le commerce ne pr~sentent pas
ces ph~nom~nes avecla m~me precision. J'en ai rencontr6 qui peuvent grimper
sur un grillage et qui se distinguent par d'autres particularitgs apparentes. Elles
poss~dent probablement encore une autre paire de canaux, sinon compl~tement
developp6s, mais dent les d~fectuosit~s n'emp~chent pas enti~rement le fonc-
tionnement".

Beitri~ge zur Physiologie des Raumsinns. 429
fi~higer, als bei allen anderen bis jetzt yon Rawitz untersuchten
Tanzmausen.
2.
Neue Beobachtungen an den Tanzm3iusen.
Die Tanzmituse, die ich im Mai 1900 erworben babe, zeigten
schon in ihrem Aeusseren gewisse Unterschiede, sowohl unter sich,
als aueh besonders im Vergleich mit den Thieren, an denen ich im
Sommer 1899 experimentirt habe.
Da sammtliche erworbenen Exemplare Mannchen waren, so ver-
theilte ich sie in den verschiedenen Kiifigen, bloss ihrer ausseren
Erscheinung naeh, die Vertheilung hat sieh als gelungen erwiesen,
da die Thiere ganz friedlich zusammen lebten.
Dem Aussehen nach konnte man zwei Hauptgruppen unterscheiden.
Die eine Gruppe bestand aus drei Exemplaren. Ihrer K0rperform
nach n~herten sie sich am meisten den Tanzm~usen yore Jahre 1899.
~+ur waren ihre Schnauzen weniger abgerundet. Auch besassen sie
am Kopfe d rei grosse Flecke aus struppigem, schwarzem Haar, die
ihnen ein ganz eigenthamliches, fast komisches Aussehen verliehen.
Die anderen vier Tanzmause iihnelten in ihrem KSrperhabitus fast
vollkommen den albinotischen Mausen. Sie besassen dieselbe spitze
Schnauze und einen langen KSrper. •ur die kleinen Flecke an
Kopf und Htffte bildeten einen sichtbaren Unterschied. Das eine
Paar war viel weisser und besass vier hellbraune Fleeke, das andere
deren ft~nf, die fast ganz schwarz waren. Auch ihrem Verhalten
nach zeigten sie manche Unterschiede; ich bewahrte sie daher in
gesonderten Kiifigen. Nach dem Tode wurden ihre KSpfe auch in
gesonderte Flfischchen gelegt. Leider entstand im letzten Augenblick
eine Verwechslung der Flaschen und so zog ich es vor, sie zusammen
an Rawitz zu senden.
Diese vier Tanzmiiuse bildeten die e rste Gruppe der yon
Rawitz untersuchten Tanzm~use. Entsprechend den ver-
schiedenen Befunden in den Verbildungen des Ohr-
labyrinths sah sich dieser Forscher gezwungen, die-
selben ebenfalls in zwei Untergruppen einzutheilen
(Fig. 1 und 2 seiner Tafel).
Dies weist schon darauf bin, dass zwischen dem husseren Aus-
sehen der Thiere und den physiologischen Eigenthttmlichkeiten ihrer
Bewegungen 1) einerseits, und den pathologischen Defecten ihrer
1) Siehe unten.
29 *

430 E.v. Cyon:
Bogengiinge andererseits, ein bestimmter Zusammenhang bestand.
Gleichzeitig legt diese anatomische Gruppirung auch
Zeugniss ab, filr die Yorzaglichkeit tier Born'schen
Platten-Modellirmethode und far die Sorgfalt, mit
welcher Rawitz dieselbe angewendet hat.
Diese vier Tanzmi~use wichen am meisten yon den frilher yon
mir beobachteten ab : sie fiihrten nut S o l o t an z e aus, pflegten da-
bei die Schwiinze nicht in die H.iihe zu heben und nahmen auch
sonst nicht die, den gemeinsamen Ti~nzen der japanischen
Miiuse so eigenthfimlichen Kopf- und KOrperstellungen einl). Sie
tanzten auch viel mi~ssiger, was Hi~ufigkeit und Schnelligkeit an-
betrifft. Diese Abweichungen mSgen davon herrahren, dass alle vier
M-;~nnchen waren; der geschiechtliche Reiz feh]te also beim Tanzen.
Dagegen weisen die folgenden Abweichungen sicherlich auf eine
u ihrer Abart oder Abstammuno," hin. Diese Tanz-
misuse zeigten nicht das fortwi~hrende Schniiffeln in der Luft, das
yon Rawitz sogenannte ,,Winden" des Kopfes. Auch waren ihre
Zickzackbewegungen ~iel weniger ausgedriickt. Dagegen bewegten
sie sich nach vorwitrts, ganz wie die anderen Tanzmause, nur
in Halbkreisen und in diagonalen Richtungen. Die auffallendste
Abweichung bestand aber darin, d a s s s i e m e h r o d e r w e n i g e r
geschickt an dem dichtnetzigen Gitter der Ki~figw~nde
in verticaler Richtung za klettern vermochten, wobei
sie aber, ebenfalls, immer in Diagonalen oder in Halbkreisen sich
aufwi~rts bewegten, so dais ihr K6rper immer schief zu
liegen kam.
Auf einem schief gestellten Holzbrett mit rauher Oberfli~che
suchten sie nicht hi~aufzuklettern, und verblieben auch auf dem-
selben ungerne, wenn sie zwangsweise hiaaufgebracht wurden. ~Auf
einem ithnlichen Holzbrett mit kleinen Querleisten bewegten sie sich,
dagegen~ ganz yon selbst nach aufwarts; sie vermochten auch ]iingere
Zeit auf einer Leiste zu verharren. Auf einer 4 cm breiten Holz-
treppe mit etwa 2 r Steigung und :nit Seitenw~nden versehen,
kletterten sie noch gerner herauf, wobei sie-auf jeder Stufe zuerst die
vier Pfoten heraufbracbten, ehe sie weiter-hinaufstiegen. Sie kletterten
~tuch bis nach oben hinauf (etwa 80 cm) und verweilten auf den
Stufen mehrere Minuten lang. Das Hinabsteigen geschah mit der-
selhen Vorsicht wie das Hinaufsteigen.
1) Siehe 5, S. 215 u. IT.

Beitri~ge zur Physiologie des l%umsinns. 431
Im Gegensatz zu den frtiher beschriebenen Tanzmi~usen, und
auch zu den M~usen der zweiten Gruppe, kehrten sie beim Absteigen
vollsti~ndig urn, so dass sie dabei den Kopf nach vorne hielten, und
zwar gleichgiiltig, ob sie schnell herunterglitten oder langsam die
Treppe hinabgingen. Die frtiheren Tanzm~use glitten mehrmals mit
dem Steiss nach vorn herab, also ohne sich umzudrehen.
Zwischen den beiden Paaren bestand in erster Linie der grosse
Unterschied, dass das eine Paar (das hellere) nieht nut auf die Gal-
tonpfeife reagirte, sondern dem Pfeifen sehr gern zuhSrte. Sobald
dasselbe ersehallte, liefen die beiden MiSuse bis zur Eeke des Ki~figs
und verblieben mit ihren Schnauzchen an die Wand gepresst, um
dem PMfen besser zuzuhSren. Das zweite Paar war volls~andig taub
and reagirte in keiner Weise auf die Pfeife.
Was die Bewegungsanomalien anbetrifft, so bestand zwisehen
beiden Untergruppen eher ein quantitativer als Bin qualitativer
Untersehied. Das dunklere Paar kletterte weniger gesehiekt und
viel ungerner als alas hellere Paar, ffihrte dagegen die Tanze an-
haltender und lebhafter aus.
Die beiden Paare vertrugen sieh sehr gut miteinander~ wie
auch mit den drei Tanzmausen der zweiten Gruppe. Ihre Khfige
eommunicirten, sie besuchten sich gegenseitig, kehrten aber immer
in ihre respectiven Ki~fige und kleine Holzkisten zurfick, die ihnen
als Schlafstellen dienten. Wie wir unten sehen werden, ~var das
Verhalten der beiden Paare aueh bei der Blendung ziemlich ver-
schieden.
Weder diese Gruppe yon Tanzmi~usen, noch die andere, stiess
je Sehmerzensschreie aus, wie ich sie bei den fraheren Mhusen hSrte
(5, S. 218). Sollten nur die Weibehen Stimme besitzen, oder sind
die Mannehen gegen Schmerz weniger empfindlieh? Dies vermag
ich nicht zu entseheiden.
Die zweite Gruppe yon den drei Tanzmausen zeigte in ihren
Bewegungen fast samnitliehe Eigenthiimlichkeiten, welche ieh bei den
M~tusen vom Jahre 1899 beobaehtet habe. Das ,,Winden", die Ziek-
zackbewegungen~ die Vorwartsbewegung in diagonaler Richtung oder
in Halbkreisen, das Tanzen um die verticale Achse und das Manege-
laufen u. s. w. Auch diese MiSuse fiihrten nur Solotanze aus; nur
waren die letzteren ~iel weniger anhaltend~). Alle "diese Eigen-
1) Die Schrauzen l~ei den Tanzm~usen vom Jahre 1899 waren sichtich
breiter als bei diesen. Dcren KOpfe schienen auch im u zum kleinen

Citations
More filters
References
More filters
Journal ArticleDOI

Ueber die optische Orientirung bei Neigung des Kopfes gegen die Schulter

TL;DR: The problem of orientirung bei Neigung des Kopfes gegen die Sehultern is oft behandelt worden, zumeist in Zusammenhang mit der Bedeutung der sogenannten eompensatorisehen Augenrollungen fiir die rgumliche Wahrnehmung.
Journal ArticleDOI

Zur Physiologie des Labyrinthes der Tanzmaus

G. Alexander, +1 more
TL;DR: In this paper, the Tanzmause reagiren auf keinerlei Schalleindrucke and verhalten sich der galvanischen Durchstromung des Kopfes gegenuber wie normale Thiere.
Frequently Asked Questions (2)
Q1. What are the contributions in this paper?

Inhalt. this paper Theodorakopoulos et al. present an overview of Beobachtungen an den Tanzmi~usen in the context of the Physioogle des Raumsinns. 

Die Analogie mit den Neunaugen, di,e v o n ~T a t u ra u s nur zwei Bogengangpaare besitzen, auf welche ich in meiner ersten Untersuchung aber die japanischen Tanzmause hingewiesen habe, ist ,also in der Wirklichkeit eine ziemlicb beschrankte.